Dieter Asmus

 
     
 

Eine Stange Wasser

 
     
 

     Blöde, aber wahr – seit über 20 Jahren fahre ich im Urlaub an dieselbe Stelle, so auch diesmal: ein kleines Haus mit alten, dicken Mauern, eingeklemmt zwischen zwei Hügel, auf denen die Macchia langsam die ehemaligen Weingärten überwuchert und so zurückerobert, vor mir nur das Meer, glatt wie Speck. Das Meer, das ich etliche hundert Mal fotografiert und, daraus resultierend, einige Male gemalt habe. Wie man so sagt.

      Nun rangiert Wasser auf der Schwierigkeitsskala der Maler nahe am Maximum, man könnte es schon fast als Angstgegner bezeichnen. Es ist ja von Natur aus nicht nur farblos, formlos und durchsichtig, sondern auch quasi immateriell, es zerrinnt einem wortwörtlich zwischen den Fingern – möchte man da nicht gleich zum Naiven werden, dem das alles wurscht ist, oder zum Impressionisten? Wobei wir uns wohl – mit der Moderne im Rücken – alle darüber klar sind, daß man nicht „Wasser“ malt, wenn man Wasser malt, sondern ein Bild. Es geht ja keinesfalls um die um die „Nachahmung der Welt“ (W. Hofmann), ich will ja kein Imitat, weder des Wassers im besonderen, noch der Welt im allgemeinen. Warum sollte ich auch: das Original ist in seiner Dreidimensionalität, Struktur, Bewegung, Farbe, in seinem Geruch, Geräusch, seiner Haptizität und Stofflichkeit, kurz: in seiner Einzigartigkeit ohnehin weder zu erreichen noch jemals zu toppen.

      Mittlerweile zeigt das Meer ein plastisch bewegte Oberfläche, vulgo Wellen, die auf jeden kleinen Windhauch und auf jeden Kiesel, über den sie laufen, reagieren. Diese totale Formbarkeit des Wassers, die absolute Präzision, mit der es an seiner Oberfläche auf die widersprüchlichsten physikalischen Reize mit Buckeln Schründen, zartesten Gittern, Strudeln, Blasen, winzigsten Löchern, ja, man möchte sagen, geradezu musikalisch reagiert: hinreißend, unerhört, ungesehen – jedenfalls in der Kunst noch nie aufgetaucht! Leonardo hat zwar per Silberstift versucht, Wasser in unterschiedlichsten Stadien zu fixieren. Was ihm fehlte, um dokumentieren zu können, war die entscheidende optische Verlängerung des menschlichen Sensoriums, die uns heute zur Verfügung steht: die Kurzzeitbelichtung der Schnellschußkamera.

      Ich habe vor Jahren, angeregt durch Tauchgänge vor der Felsenküste, mal versucht, die Wasser-Unterfläche in einem großen Bild festzuhalten, die deswegen so merkwürdig und im übrigen sehr fremd aussieht, weil sie nicht wie die Oberfläche Spitzen und Täler ausbildet, sondern das Negativ: Kissen. Fotos davon erwiesen sich als zu naturalistisch, ich mußte zu einer List greifen: jahrelang fotografierte ich immer wieder den Spülsaum, da, wo das Wasser über die rundgeschliffenen Steine schwappt und dabei ähnliche Formen ausbildet wie die Wasserunterfläche. Schließlich hatte ich zwei Fotos in der Hand, die meiner Vorstellung nahekamen. Es zeigte sich aber beim Malen, daß ich große Schwierigkeiten hatte, die Buckel und Rillen in einen organischen „Fluß“ zu bringen, ohne jede einzelne Erhebung nach Größe, Form und Stellung genau zu fixieren – sie hatten die unausrottbare Neigung, ornamental zu werden. Bei einer Arbeitsleistung von der Größe einer Handfläche pro Woche angesichts von zwei gewünschten Quadratmetern gab ich auf – vorerst. Zehn Jahre später hatte ich durch ständiges Beobachten endlich erreicht, daß nicht nur Auge und Kopf, sondern auch der Körper das Wachstumsgesetz begriffen hatte und die angestrebte organische Struktur über den Arm sozusagen aus der Hand laufen lassen konnte.

     Es ist ein leichter Sturm aufgekommen, wie hier am Westende der Insel, der „Wetterecke“, häufig von einer Stunde zur anderen. Die ziemlich hohen Wellen der See klatschen gegen den winzigen Ponton und schießen dann senkrecht in die Höhe, um über der einheimischen Dorfjugend und den wenigen Touristenkindern, die sich einen Spaß daraus machen, zusammenbrechen.Die hochschießenden Brecher bilden dabei,  von der eigenen Wucht getrieben, für einen Moment lang eine virtuelle Plastik, eine gedrehte Säule aus Glasfluß.  Dies ist die Stunde, besser: 1000stel Sekunde der Fotografie! Sie zeigt Flüssigkeit wie wir sie noch nie wirklich gesehen haben, eingefroren im „ewigen Moment“. Und natürlich reagiert ein Maler vorzugsweise auf solche neuen Anblicke! Durch die Fixierung des bewegten Strahls wird die Zeit stillgestellt, nicht imitiert, in ihrer Negation aber überhaupt erst deutlich spürbar. Der Anblick einer angeblich bekannten Sache erneuert sich und wird zeitgenössisch, nicht kunstgeschichtlich, erlebbar. Unser 3. Auge, die Fotografie, stellt so eine Vielzahl neuer Anblicke nicht nur des Wassers zur Verfügung, die bisher entweder wegen zu großer Schnelligkeit des Objekts oder zu großer Trägheit unserer Augen unentdeckt blieben. Die Malerei aber kann das Fotodokument in jenes ominöse Konzentrat übersetzen, das unserem Gemüt faßbar und unserem Geist angemessen ist. Die Kunst, könnte man sagen, benutzt den Maler, damit er das Wasser seiner Zeit malt. Die Zeit des Wassers kommt erst noch!

      Einem kleinen Jungen bleibt es vorbehalten, mit seinen bescheidenen Mitteln dem Protzen und Auftrumpfen des Meeres etwas entgegenzusetzen, seinen Kommentar sozusagen, seine Antwort: er stellt sich – breitbeinig, versteht sich – in sicherer Entfernung frontal zur See und pinkelt eine schöne, wenn auch winzige Parabel gegen den Wind. Das wird man nächstes Bild! Titel: „Eine Stange Wasser“.
  

(erschienen in KUNSTZEITUNG Nr. 61)
 

 
 
     

Zurück zu "Texte

Home