Dieter Asmus |
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Ein Auge kommt
selten allein oder: |
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Künstler
wird man nach landläufiger Vorstellung so:
In
meiner Familie hatte es noch nie einen Künstler gegeben (so
meine Familie - als wenn das ein Verdienst wäre!), meine Vorfahren
waren Fischer und Bauern, ein Opa Tagelöhner mit neun(!) Kindern,
allerdings soll der eine Onkel in der Lage gewesen sein, den schlafenden
Kaiser Rotbart im Kyffhäuser sehr lebensecht zu zeichnen, wobei ihm
sein roter Bart - das hatte alle Betrachter immer besonders begeistert
-„steif wie ein Brett" direkt durch den Marmortisch wuchs. Dieser
Onkel aber war nicht Maler geworden, sondern Landstreicher.
Auch ich konnte, solange ich denken kann, „schon immer zeichnen",
jedoch schwankte mein Berufswunsch lange Zeit zwischen Maler, Westmann
und Giraffenwärter. Die Sache spitzte sich zu, als unser Mietshaus in
Hamburg-Hamm eine Brandbombe abkriegte und die Familie in ein kleines
Dorf an der Ostsee „evakuiert" wurde. Da gab es für mich endlich
genügend Natur, aber von Kultur war weit und breit nichts zu sehen, und
obwohl ich nicht wußte, was das war, begann ich, je älter ich wurde,
diese Abwesenheit wie ein fehlendes Bein zu spüren (geistige
Phantomschmerzen ?) - bis... ich zum erst Mal mit ins Kino genommen
wurde, das alle acht Wochen im Dorfkrug gastierte. Da war ich verloren!
Seitdem sah man mich nur noch mit meinem Schuhkastenkino über
die Dorfstraße laufen (ein Loch hinten, zum Reingucken; ein Loch,
rechteckig, auf der gegenüberliegenden Seite, „die Leinwand",
zum Rausgucken): Da verwandelte sich plötzlich die ganze Welt,
Menschen, Kühe, Wolken nach meinem Willen in „bewegte Bilder",
ich konnte „Totale", „Halbtotale", „Schwenks",
„Fahrten" markieren - das war mein künstlerisches Urerlebnis.
Die Liebe zum Kino hat mich nie verlassen und ist wahrscheinlich der
Grund für die filmische Sicht vieler meiner Bilder.
Der zweite Schock erwischte mich ausgerechnet bei unserem Dorffriseur,
der die „Lesemappe" ausliegen hatte: Dort traf ich auf meine
erste „Eisenherz"-Seite, ich war betört wie Odysseus durch die
Sirenen und mußte abends gewaltsam nach Hause gebracht werden.
Die Macht der Form wurde mir aber erst später bewußt. In Hagenbecks
Tierpark gibt es eine sogenannte „Löwen-Freianlage" (ein Patent
des alten Carl Hagenbeck), die es ermöglicht, Raubtiere ohne Gitterstäbe
zu zeigen mittels einer sehr steilen Wand und eines
„unsichtbaren" Wassergrabens, den Löwen im Sprung nicht mehr bewältigen
können. Da hat man dann das schöne gruselige Gefühl, dem „König
der Tiere" direkt gegenüberzutreten. Das hatte ich mit meiner Box
schon oft fotografiert, aber stets mit enttäuschenden Ergebnissen. So
sehr ich mich auch abmühte, das Foto entsprach nie meinem Erlebnis.
Eines Tages nun fiel mir ein Negativ in die Hand, das nie abgezogen
worden war, weil es hauptsächlich die ewig hohe Betonmauer zeigte, nur
im oberen Achtel des Bildes konnte man, sehr klein, die Löwen erkennen.
Da wurde mir schlagartig klar, daß dieses Bild viel besser als alle
andern ausdrückte, was ich empfunden hatte. Die riesige Fläche der
steilen Wand exponierte die gefangenen Tiere gleichsam auf einem Tablett
und spitzte die Situation so zu, daß sie nacherlebbar wurde.
Hier wurde mir zum ersten Mal bewußt, daß es wenig oder gar nichts
nutzt, die Dinge oder Situationen, die mich beeindruckten, nur
abzubilden, daß es vielmehr darauf ankommt, sie auf den angestrebten
Ausdruck hin zu organisieren, die innere Struktur eines Erlebnisses
(wenn man Maler ist: eines stark optisch bestimmten Erlebnisses) zu
erkennen und zu übersetzen, zu übersetzen in Form und Gestalt (weshalb
„Zeichnenkönnen" allein noch nichts mit Kunst zu tun hat; es muß
eine Schwelle überschritten werden, die Schwelle des Bewußtseins: von
der Abbildung zur Herstellung. Ein Vogel ist kein Komponist. Daraus erklärt
sich auch, warum es viele irgendwie gegenständliche, aber so wenig gute
realistische Bilder gibt). Man lernt nach und nach, daß man sich
bildtaktisch verhalten muß, um einen in der Realität komplexen
Eindruck durch die Reduktion auf ein einziges Medium (hier: Bild) nicht
zu amputieren, sondern zu konzentrieren.
Das hört sich sehr kühl an und widerspricht entschieden der
Vorstellung, die man sich gemeinhin von einem Künstler macht, der
angeblich im Rausch sein Herz auf die Leinwand schleudert. Die „heiße
Phase" findet aber vor der Wirklichkeit statt. Vor der Leinwand muß
Professionalität herrschen: Das Mitleid eines Chirurgen für den
Patienten kann im Moment der Operation lebensgefährlich werden. Die
Mittel, mit denen Künstler ihr Ziel erreichen, sind bei jedem
unterschiedlich organisiert. Aber sie sind organisiert, denn man erkennt
einen Künstler ja gerade daran, daß er die Erlebnisse, die in der
Wirklichkeit latent vorhanden sind (er denkt sie sich nicht aus!), bündeln,
gewichten, formulieren und willentlich (nicht willkürlich) wieder
hervorrufen kann. Daß daran ein unwägbares Moment beteiligt ist, steht
außer Frage!
Es läßt sich somit ohne zu übertreiben sagen, daß ich meine künstlerischen
Schlüsselerlebnisse den Underground-Medien Kino, Comic, Foto verdanke -
lange bevor ich an die Kunsthochschule kam. Die Kunstgeschichte des 20.
Jahrhunderts ist ja auch die Geschichte der Emanzipation der Subkultur.
Angefangen mit der Naiven Malerei (die der Kunstschriftsteller Wilhelm
Uhde „kunstwürdig" machte) über die Kunst der Primitiven (die
die Kubisten und Expressionisten stark beeinflußte), die
Kinderzeichnung und Kunst der Geisteskranken (denen zum Beispiel Paul
Klee und Jean Dubuffet viel verdanken) über Reklame, Comics, Kitsch
(die die Pop Art benutzt) bis zur Fotografie, die seit ihrer Erfindung
einen sehr großen Einfluß auf viele Maler ausgeübt hat (zum Beispiel
auf Edgar Degas und Francis Bacon) und besonders heute an Brisanz
gewonnen hat, da eine neue Künstlergeneration mit der Fotografie
arbeitet (und nicht wie im 19. Jahrhundert und in der Abstraktion: gegen
sie).
Diese Äußerungen der Subkultur haben eins gemeinsam: Vitalität! Es
wird gestaltet auf Deubel-komm-heraus, Kunstgeschichte und Ästhetik
interessieren die Erzeuger einen Dreck, die meisten von ihnen wissen gar
nicht, daß es sowas überhaupt gibt. Ausdruck, Effet, und sei er nach
landläufigen Maßstäben auch noch so verquer, ist alles! Aber gerade
diese Ursprünglichkeit, Kraft und Unbedenklichkeit, die einen
schreienden Kontrast zur Kunstkritiker-Kunst, zur in sich rotierenden Ästhetik
der Mandarine bildet (die „das Volk" herzlich wenig kümmert),
interessiert naturgemäß die Künstler, die ein Abschlaffen und
Erstarren der zeitgenössischen Kunst und eine Seelenverwandtschaft mit
kräftigeren Äußerungen empfinden (denn die Kunst erneuert sich immer
von unten, nie durch Theorie!). An der Kunsthochschule wurde ich zunächst
zweimal abgelehnt (dort herrschte Tachismus, und ich Depp hatte
Stilleben eingereicht). So fand ich mich plötzlich zwischen Skylla und
Charybdis, zwischen „Subkultur" und „Hochkunst", zwischen
meiner naiven Begeisterung und dem offiziellen Avantgarde-Anspruch. Das
bildnerische Ergebnis waren merkwürdig bunte Zwitterwesen, starkfarbig
hingedonnerte „wilde" Figuren wie der „Letzte Mohikaner"
von 1961.
Auch damals gab es einen Zeitgeist, der sich in sehr merkwürdigen Tabus
und Maximen äußerte. „Dinge haben im Bild nichts zu suchen, die
Dinge des Bildes sind Farbklänge und Formrhythmen": die damals
notorische Verwechslung der Malerei mit Musik. „Gegenstände im Bild
sind nicht Malerei, sondern Literatur": die Angst vor der
Fotografie. „Ein Bild ist eine Fläche": Als wenn jemand im Ernst
schon mal versucht hätte, eine gemalte Landschaft zu betreten! Immerhin
hatte Werner Haftmann, der Kunstpapst der westdeutschen Hemisphäre,
1959 im Katalog der documenta 2 dekretiert: „Die Kunst ist abstrakt
geworden" (sprich: ein für allemal!).
Eine Anekdote ist
bezeichnend: Als einer
meiner Professoren bei
der Korrektur auf einem meiner Bilder, das zwar aus tachistisch
gespachtelten Färbgebirgen bestand, die gleichzeitig aber einen
erkennbaren Kopf bildeten, zwei weiße Kringel entdeckte, die den
Betrachter stechend anguckten (so 'ne Art Krümel-Monster in der
Dubuffet-Nachfolge), stöhnte er entsetzt auf: „Wenn Sie wenigstens
nur ein Auge gemacht hätten!" Mein schüchterner Einwand
„Ein Auge kommt selten allein" brachte mir eine schlechte
Ausgangsposition fürs Zwischenexamen ein.
In dieser Zeit entstanden Bilder wie „Haus mit Rauchfahne",
„Bild, Stein, Kind" oder „Die Vorsokratiker" (bestehend
aus fünf mehr oder weniger fetten Philosophen, einem Teufel, einem
Indianer, einer Henne, einem Phallus, einer zweiköpfigen Frau, einer
Katze und einer brennenden Kerze - Freud hätte seine Freud' dran
gehabt). Die Figuren und Dinge schälten sich nach und nach klarer aus
dem Hintergrund heraus und gewannen gleichzeitig an Präsenz.
Es wäre nun langsam an der Zeit zu klären, was einen Künstler überhaupt
ausmacht, inwiefern er sich von anderen Leuten unterscheidet, die doch
dieselbe Welt sehen wie er.
Um das zu verdeutlichen, ein kleines Gedankenspiel: Schon eine so
vergleichsweise simple Perspektiv-Verschiebung, wie sie entsteht, wenn
ich nicht als Mensch, sondern als Katze den Garten betrete, hat rasante
Folgen: Der Horizont wird nicht mehr durch die Nachbarhäuser oder die
etwas weiter entfernten Bäume gebildet, sondern durch die 40 Zentimeter
hohe Buchsbaumhecke, oder, noch merkwürdiger, durch das Gras des lange
nicht geschnittenen Rasens - alles, was wir Menschen in der Obersicht
sehen, weil klein: Blumen, Erdschollen, Steine, wird zu Figuren „in
Menschengröße" mit drohenden Umrissen. Die meisten Erscheinungen
präsentieren sich in Untersicht, Menschen und Bäume sind
kirchturmhoch, eine ausgewachsene Eiche ist eine kleine Stadt, in der Vögel
und Insekten als Persönlichkeiten auftreten. Dann erst der Raum, zum
Beispiel aus der Sicht eines Spatzen. Luft ist Materie, die sicher trägt,
durch die hindurch man nicht zwangsläufig nach Menschenart wie ein
Stein zu Tode stürzt, Bäume mit ihren Ästen und Blättern sind weiträumige
Gebilde am Grunde des Luftozeans, durch deren Lücken man schnell und
sicher reisen kann. Die Zeit: angepaßt an den eigenen kleinen, rasenden
Herzschlag, individuell gedehnt, eine tausendstel Sekunde kann man lässig
planen, diese Mücke, die dort am Horizont aufsteigt, nehmen wir schnell
noch mit - welche Möglichkeiten! Das Aufblühen einer Blume dauert die
ganze Jugend, abends um sieben hat eine Eintagsfliege schon
Rheumatismus!
Ein Kind, das auf die Welt kommt, weiß nichts davon, ob ein Gegenstand
schön oder häßlich, teuer oder billig, praktisch oder unpraktisch,
gut oder schlecht ist — ihm sind alle Erscheinungen gleichermaßen
neu, aufregend, unvertraut, kurz: magisch. Man könnte auch sagen:
existentiell. Ein neugeborenes Wesen muß sich Orientierung ausschließlich
mit Hilfe seiner Sinne verschaffen, jeder neue Mensch auf Erden bedeutet
eine neue Welt, bedeutet, daß die Welt nochmal von vorn anfängt (und
somit die Chance einer Erneuerung erhält). Die sich nähernde Hand der
Mutter ist riesig im Vergleich zu ihrem Kopf, der Gesichts- und Tastsinn
liefern da durchaus widersprüchliche Informationen, bis man „weiß",
wie beides sich praktisch in Beziehung setzen läßt, damit man sich in
dieser Welt bewegen kann. Praktisch: Darauf wird fast die gesamte
„Erziehung" bis zur Bahre hinauslaufen. Man wird lernen,
Menschen, Situationen, Dinge, Landschaften danach zu be- oder
verurteilen, ob sie einem nützen oder nicht (ausgedrückt in
Zentimetern, Kilogramm pro Quadratmeter, D-Mark), und viele Menschen
werden vergessen, daß es auch noch eine ganz andere Möglichkeit der
Welterfahrung, der Weltaneignung, des Umgangs mit der Welt gegeben hätte.
Die sinnlich-qualitative Weltsicht wurde zugunsten einer
wissenschaftlich-quantitativen zurückgedrängt, ja, fast völlig
ausgerottet - ein Manko, das nach dem Bankrott des Fortschritts heute
als besonders quälend empfunden wird. Die Alternative heißt sicher
nicht „musisch", schon gar nicht „ästhetisch", denn es
kann nicht darum gehen, ein Weltbild durch das andere zu ersetzen.
Beides kann prima durcheinander existieren (wie die gesamte westliche
Welt immer noch von Italien lernen kann), und zwar im Sinne einer
gegenseitigen Steigerung: Das Praktische wird gleichzeitig
ausdrucksvoll, das Schöne wird gleichzeitig vital - wodurch sich diese
typisch deutsche Scheindiskussion „kritisch" gegen „ästhetisch"
nebenbei von selbst erledigt. Hierzulande ist das Praktische meistens
potthäßlich (Architektur!), und die Kunst hat nichts mit dem Leben zu
tun. Seid egoistischer!
Kinder weigern sich, aus etwas anderem zu trinken als aus ihrer
Lieblingstasse, für sie haben die Dinge eine „Aura", eine
wahrnehmbare Ausstrahlung, die Dinge „antworten". Darum geht es
in der Kunst: um die Ausstrahlung der durch die Sinne wahrnehmbaren
Welt, die, nebenbei, unser Unterbewußtsein weit stärker prägt, als
Erwachsene, für die eine Tasse nur noch ein Trinkgefäß ist, wahrhaben
wollen. Einzig die Kunst garantiert heute diese andere, lebendige Seite
der Welt, die, zumindest im Westen, völlig auf den Begriff gekommen
ist und auf dem Gebiet der Gestalt von einer geradezu erschütternden
Ahnungslosigkeit und von immer noch zunehmendem Analphabetismus
gekennzeichnet ist. Nicht mit dem Kopf, mit den Sinnen erfahren wir
Sinn. Daraus resultiert die ungeheure Bedeutung der Kunst heute, bei
gleichzeitiger Mißachtung. Dabei ist sie das einzige, was uns retten
kann.
Ende 1964 waren meine bildnerischen Mittel soweit, daß ich ausdrücken
konnte, was ich erlebte, daß ich keine direkten Vor-Bilder mehr hatte,
daß ich begann, ein eigenständiger Künstler zu werden. Am meisten
gelernt, und das möchte ich hier betonen, habe ich von Picasso,
Dubuffet, Bacon.
Auf diesen drei Grundpfeilern konnte ein neuer Realismus unter
Integration und Verwendung der Erkenntnisse der Abstraktion „jenseits
der Moderne" entstehen. Wenig später malte ich mein erstes
wirklich eigenständiges Bild, „Kniende mit Ball", und das war
nicht nur gegenständlich, sondern schreiend realistisch - aber das ist,
wie Kipling sagen würde, eine andere Geschichte. |
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